Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Urteile v. 06.11.2018 – Rechtssachen C-619/16 und C-684/16– Quelle: EuGH – Pressemitteilung – Nr.: 165/18 vom 06.11.2018
Der EuGH hat mit den beiden Urteilen entschieden, dass ein Arbeitnehmer die ihm gemäß dem Recht der Europäischen Union zustehenden Urlaubstage und folglich seinen seinen Anspruch auf die finanzielle Vergütung (Abgeltung) für den nicht genommenen Urlaub nicht schon automatisch deshalb verliert, weil er vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses oder im Bezugszeitraum keinen Urlaub beantragt hat. Der Arbeitnehmer kann aber dieser Ansprüche verlustig gehen, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer – beispielsweise durch angemessene Aufklärung – tatsächlich in die Lege versetzt hat, die fraglichen Urlaubstage zu nehmen. Das hat der Arbeitgeber, sei es ein öffentlich rechtlicher oder ein privater Arbeitgeber, zu beweisen. In der Rechtssache
C-619/16 absolvierte der Arbeitnehmer von 2008 bis Mai 2010 seinen juristischen Vorbereitungsdienst im Land Berlin, im Rahmen eines öffentlich-rechtlichen Ausbildungsverhältnisses, ohne Beamtenstatus. Von Januar 2010 bis zur Beendigung des Vorbereitungsdienstes im Mai 2010 nahm der Auszubildende keinen bezahlten Jahresurlaub in Anspruch und beantragte im Dezember 2010, ihm für den nicht genommenen Jahresurlaub eine finanzielle Abgeltung zu gewähren. Der Antrag bei der Präsidentin des Kammergerichts und der Widerspruch – durch ablehnenden Widerspruchsbescheid des Gemeinsamen Juristischen Prüfungsamtes der Länder Berlin und Brandenburg – blieben ohne Erfolg. Die dagegen beim Verwaltungsgericht Berlin erhobene Klage wurde im Mai 2013 abgewiesen, da – so das Verwaltungsgericht Berlin – die Verordnung über den Erholungsurlaub der Beamtinnen, Beamten und Richterinnen und Richter (Erholungsurlaubsverordnung – EUrlVO) keinen Anspruch auf finanzielle Abgeltung des bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht genommenen Jahresurlaub vorsehe, auch Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/88/EG führe zu keinem anderen Ergebnis, da diese Vorschrift voraussetze, dass der Arbeitnehmer aus von seinem Willen unabhängigen Gründen nicht in der Lage gewesen sei, seinen Anspruch auf Jahresurlaub vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses wahrzunehmen. Gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin legte der Arbeitnehmer Berufung beim Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg ein, das das Verfahren aussetzte und dem EuGH – wie das Bundesarbeitsgericht in der parallelen Rechtssache C-684/16 – eine Rechtsfrage zur Vorabentscheidung vorlegte. In der parallelen Rechtssache war der Arbeitnehmer von 2001 bis 2013 bei der Max-Planck-Gesellschaft – einem privatem Arbeitgeber – beschäftigt. Mit einem Schreiben im Oktober 2013 bat die Max-Planck-Gesellschaft den Arbeitnehmer, seinen Urlaub vor dem Ende des Arbeitsverhältnisses zu nehmen, ohne den Arbeitnehmer zu verpflichten, den Urlaub zu einem von ihr festgelegten Termin zu nehmen. Der Arbeitnehmer nahm jeweils einen Tag im November und einen Tag im Dezember 2013 Urlaub. Der Arbeitnehmer forderte die Max-Planck-Gesellschaft schriftlich im Dezember 2013 erfolglos auf, an ihn 11.979,-Euro für 51 nicht genommene Urlaubstage zu zahlen. Klage und Berufung des Arbeitnehmers hatten Erfolg. Die Max-Planck-Gesellschaft legte Revision beim Bundesarbeitsgericht ein.
Sowohl das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg als auch das Bundesarbeitsgericht wollen vom EuGH wissen, ob das Unionsrecht einer nationalen Regelung (§ 9 EUrlVo in der Rechtssache C-619/16 und § 7 BUrlG/Bundesurlaubsgesetz in der Rechtssache C-684/16) entgegensteht, die den Verlust des nicht genommenen bezahlten Jahresurlaubs und den Verlust der finanziellen Vergütung für diesen Urlaub vorsieht, wenn der Arbeitnehmer den Urlaub nicht vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses beantragt hat.
Der EuGH hat die vorgelegte Frage im Sinne der Arbeitnehmer und des Unionsrechts beantwortet. Dabei ist der EuGH in seinen Begründungen den Ausführungen des Generalanwalts in seinen Schlussanträgen gefolgt. Danach ist der Arbeitgeber aufgrund „des zwingenden Charakters des Rechts auf bezahlten Jahresurlaub und angesichts des Erfordernisses, die praktische Wirksamkeit von ARt. 7 der Richtlinie 2003/88 zu gewährleisten, u. a. verpflichtet, konkret und in völliger Transparenz dafür zu sorgen, dass der Arbeitnehmer tatsächlich in der Lage ist, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, indem er ihn – erforderlichenfalls förmlich – auffordert, dies zu tun, und ihm, damit sichergestellt ist, dass der Urlaub ihm noch die Erholung und Entspannung bieten kann, zu denen er beitragen soll, klar und rechtzeitig mitteilt, dass der Urlaub, wenn er ihn nicht nimmt, am Ende des Bezugs- oder eines zulässigen Übertragungszeitraums oder am Ende des Arbeitsverhältnisses, wenn dies in einen solchen Zeitraum fällt, verfallen wird.“
Des Weiteren hat der EuGH, unter Verweis auf seine bisherige Rechtsprechung ausgeführt, dass der Arbeitgeber dafür die Beweislast trägt. Mit der Folge im Falle des misslungenen Nachweises, „dass er mit aller gebotenen Sorgfalt gehandelt hat, um den Arbeitnehmer tatsächlich in die Lage zu versetzen, den ihm zustehenden bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, verstieße das Erlöschen des Urlaubsanspruchs und – bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses – das entsprechende Ausbleiben der Zahlung einer finanziellen Vergütung für den nicht genommenen Jahresurlaub gegen Art. 7 Abs. 1 und Abs. 2 der Richtlinie 2003/88.“
Im umgekehrten Fall, in dem der Arbeitgeber den Nachweis erbringen kann, „dass der Arbeitnehmer aus freien Stücken und in voller Kenntnis der sich darauf ergebenden Konsequenzen darauf verzichtet hat, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, nachdem er in die Lage versetzt worden war, seinen Urlaubsanspruch tatsächlich wahrzunehmen, steht das Unionsrecht (Art. 7 Abs. 1 und Abs. 2 der Richtlinie 2003/88) dem Verlust dieses Anspruchs und – bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses – dem entsprechenden Wegfall der finanziellen Vergütung für den nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub nicht entgegen.“
Das haben die nationalen Gerichte in den beiden Ausgangsverfahren nun zu prüfen.