BFH, Beschluss v. 25.04.2018 – Az.: IX B 21/18 – Quelle: BFH – Pressemitteilung Nr. 23/18 v. 14.05.2018
Der Bundesfinanzhof (BFH) hat nach einer summarischen Prüfung in einem Verfahren zu Nachzahlungszinsen die Aussetzung der Vollziehung (AdV) gewährt, weil er schwerwiegende Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Höhe des Zinssatzes zumindest für Verzinsungszeiträume ab dem Jahr 2015 hat. Die Entscheidung ist in einem Verfahren gegen die Festsetzung von Nachzahlungszinsen für die Jahre 2015, 2016 ergangen – diese betragen nach § 238 Abs. 1 S. 1 Abgabenordnung (AO) einhalb Prozent für jeden angefangenen Monat, jährlich damit 6 %. Der Bundesfinanzhof hat seine Entscheidung im Wesentlichen darauf gestützt, dass die Höhe des Zinssatzes
- gemessen an der wirtschaftlichen Realität realitätsfern bemessen sei (Verstoß gegen das Übermaßverbot (Rechtsstaatsprinzip Art. 20 Abs. 3 GG)
- den allgemeinen Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 GG verletzte
- eine sachliche Rechtfertigung für die Höhe des Zinssatzes ergebe sich bei summarischer Prüfung nicht
- das Ziel, den Nutzungsvorteil des Steuerpflichtigen für den Zeitraum der Nichtzahlung der Steuer abzuschöpfen, sei wegen des strukturellen Niedrigzinsniveaus nicht erreichbar.
Die Entscheidung ist – vor allem wegen der Bezugnahme auf und dem Anerkennen der wirtschaftlichen Realiät (Niedrigzins) – zu begrüßen. Zumal, worauf der BFH ausdrücklich in seiner Entscheidung Bezug nimmt, der Gesetzgeber den Handlungsbedarf erkannt hat, aber – im Gegensatz zu anderen Zinsen in der AO oder dem Handelsgesetzbuch (HGB) – keine Gesetzesänderung herbeigeführt hat. Betroffene Steuerpflichtige sollten gegen einen Zinsfestsetzungsbescheid unter Bezugnahme auf diesen Beschluss des BFH zum o. g. Aktenzeichen einlegen, damit der Fall offen gehalten wird und keine Bestandskraft eintritt, bis die Frage der Verfassungswidrigkeit der Zinshöhe abschließend geklärt ist.
Zur Pressemitteilung:
Der Bundesfinanzhof (BFH) zweifelt an der Verfassungsmäßigkeit von Nachzahlungszinsen für Verzinsungszeiträume ab dem Jahr 2015. Er hat daher mit Beschluss vom 25. April 2018 IX B 21/18 in einem summarischen Verfahren Aussetzung der Vollziehung (AdV) gewährt. Die Entscheidung ist zu §§ 233a, 238 der Abgabenordnung (AO) ergangen. Danach betragen die Zinsen für jeden Monat einhalb Prozent einer nachzuzahlenden oder zu erstattenden Steuer. Allein bei der steuerlichen Betriebsprüfung vereinnahmte der Fiskus im Bereich der Zinsen nach § 233a AO in den letzten Jahren mehr als 2 Mrd €.
Im Streitfall setzte das Finanzamt (FA) die von den Antragstellern für das Jahr 2009 zu entrichtende Einkommensteuer zunächst auf 159.139 € fest. Im Anschluss an eine Außenprüfung änderte das FA am 13. November 2017 die Einkommensteuerfestsetzung auf 2.143.939 €. Nachzuzahlen war eine Steuer von 1.984.800 €. Das FA verlangte zudem in dem mit der Steuerfestsetzung verbundenen Zinsbescheid für den Zeitraum vom 1. April 2015 bis 16. November 2017 Nachzahlungszinsen in Höhe von 240.831 €. Die Antragsteller begehren die AdV des Zinsbescheids, da die Höhe der Zinsen von einhalb Prozent für jeden Monat verfassungswidrig sei. Das FA und das Finanzgericht lehnten dies ab.
Demgegenüber hat der BFH dem Antrag stattgegeben und die Vollziehung des Zinsbescheids in vollem Umfang ausgesetzt. Nach dem Beschluss des BFH bestehen im Hinblick auf die Zinshöhe für Verzinsungszeiträume ab dem Jahr 2015 schwerwiegende Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit von § 233a AO i.V.m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO. Der BFH begründet dies mit der realitätsfernen Bemessung des Zinssatzes, die den allgemeinen Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) verletze. Der gesetzlich festgelegte Zinssatz überschreite den angemessenen Rahmen der wirtschaftlichen Realität erheblich, da sich im Streitzeitraum ein niedriges Marktzinsniveaus strukturell und nachhaltig verfestigt habe.
Eine sachliche Rechtfertigung für die gesetzliche Zinshöhe bestehe bei der gebotenen summarischen Prüfung nicht. Auf Grund der auf moderner Datenverarbeitungstechnik gestützten Automation in der Steuerverwaltung könnten Erwägungen wie Praktikabilität und Verwaltungsvereinfachung einer Anpassung der seit dem Jahr 1961 unveränderten Zinshöhe an den jeweiligen Marktzinssatz oder an den Basiszinssatz i.S. des § 247 des Bürgerlichen Gesetzbuchs nicht mehr entgegenstehen. Für die Höhe des Zinssatzes fehle es an einer Begründung. Der Sinn und Zweck der Verzinsungspflicht bestehe darin, den Nutzungsvorteil wenigstens zum Teil abzuschöpfen, den der Steuerpflichtige dadurch erhalte, dass er während der Dauer der Nichtentrichtung über eine Geldsumme verfügen könne. Dieses Ziel sei wegen des strukturellen Niedrigzinsniveaus im typischen Fall für den Streitzeitraum nicht erreichbar und trage damit die realitätsferne Bemessung der Zinshöhe nicht.
Es bestünden überdies schwerwiegende verfassungsrechtliche Zweifel, ob der Zinssatz dem aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG folgenden Übermaßverbot entspreche. Die realitätsferne Bemessung der Zinshöhe wirke in Zeiten eines strukturellen Niedrigzinsniveaus wie ein rechtsgrundloser Zuschlag auf die Steuerfestsetzung.
Der Gesetzgeber sei im Übrigen von Verfassungs wegen gehalten zu überprüfen, ob die ursprüngliche Entscheidung zu der in § 238 Abs. 1 Satz 1 AO geregelten gesetzlichen Höhe von Nachzahlungszinsen auch bei dauerhafter Verfestigung des Niedrigzinsniveaus aufrechtzuerhalten sei oder die Zinshöhe herabgesetzt werden müsse. Dies habe er selbst auch erkannt, aber gleichwohl bis heute nichts getan, obwohl er vergleichbare Zinsregelungen in der Abgabenordnung und im Handelsgesetzbuch dahin gehend geändert habe.